Sichtung des Neumondes – Überlieferung oder Zeugenaussage? | Sh. Muhammad ad-Dadaw

Scheich Muhammad al-Hassan al-Dadaw: Die Gelehrten streiten sich darüber, ob die Bestätigung des Neumondes (hilāl) über eine Zeugenaussage oder einer Überlieferung erfolgt. So waren Mālik (b. Anas) und Abū Ḥanīfa der Ansicht, dass die Zeugenaussage durch spezielle Rechte, etwa bei Fälligkeit der Schulden und der Wartezeit der Frauen usw., erfolgt. Der Unterschied zwischen der Überlieferung und der Zeugenaussage ist derjenige, dass die Zeugenaussage sich auf bestimmte Rechtsfälle erstreckt, während die Überlieferung allgemeine Rechtsfälle abdeckt, in denen es keine Streitigkeiten oder mündliche Verhandlungen gibt. Wenn also in Bezug auf die Bestätigung des Neumondes ein besonderes Recht betroffen ist, so sind die Streitigkeiten und mündlichen Verhandlungen entbehrlich, sodass mehrere Zeugenaussagen erforderlich sind. Wenn es sich jedoch nur um allgemeine bzw. gemeinsame Rechte handelt, in denen es keiner Streitigkeiten oder Verhandlungen bedarf, so ist eine Überlieferung erforderlich und keine Zeugenaussage trotz der Vielzahl der Aussagen, die vertrauenswürdiger und stärker sein mögen. Das Vertrauen bzw. die Vertrauenswürdigkeit wird dann durch eine Überlieferung einer redlichen[1] Person erlangt oder mindestens zwei Zeugenaussagen von zwei redlichen Personen. Die Hanbaliten waren der Auffassung, dass bei der Bestätigung des Neumondes eine Überlieferung genügend ist. Eine Vielzahl an Überlieferung ist hierbei nicht erforderlich.

Wenn also ein(e) redliche(r) Mann/Frau den Neumond gesehen hat und dies überliefert, so ist die Bestätigung erfüllt – sei es der Neumond von Ramadan oder Schauwāl. Imam asch-Schāfiʿī  war der Ansicht, dass die Sichtung des Neumondes für Ramadan per Überlieferung erfolgt und die Sichtung des Neumondes für Schauwāl über eine Zeugenaussage erfolgt. Denn in Bezug auf Ramadan wird dem Sichtende nicht vorgeworfen, ungenau zu sein, während dies bezüglich Schauwāl der Fall sein wird. Wenn der Mensch daher in den Angelegenheiten seiner Religion nachlässig bzw. schwach ist, kann es passieren, dass er sich beeilt, um sein Fasten zu brechen, was seinen Bemühungen in Bezug auf das Herausfinden des Fastentags widerspricht, denn diesbezüglich bemüht er sich eigentlich nicht.

Grundsätzlich sind sich die Gelehrten darin einig, dass Ramadan dadurch bestätigt wird, wenn der Monat Schaʿbān vollendet ist bzw. dieser Monat nicht mehr als 30 Tage hat. Somit ist nach den 30 Tagen die erste Nacht der 1. Ramadan laut Konsens. Ebenso herrscht ein Konsens darüber, dass Ramadan eintritt, wenn zwei redliche Personen dies mittels Sichtung des Neumondes bezeugen. Es ist umstritten, ob mehrere Personen bzw. eine Gruppe von Leuten den Neumond sichten können, wenn sich unter ihnen welche befinden, die redlich sind und andere wiederum nicht. Nach der Mehrheit der Gelehrten entfaltet ihre Sichtung (Rechts-)Wirkung (bzw. ist also gültig). Diejenigen malikitischen Gelehrten, die die Sichtung des Neumondes über mehrere Zeugenaussagen wollen, sehen das Urteil eines Richters, der der hanbalitischen oder schafiitischen Rechtschule angehört, und die Sichtung des Neumondes durch eine einzige redliche Person bestätigt sieht, als bindend an. Wenn eine Zeugenaussage weiterverbreitet wird, so ist eine Voraussetzung, dass die Zeugen ihre Aussagen unabhängig voneinander machen. Wenn die Nachricht (dass der Neumond gesichtet wurde) einen lediglich im Wege der Überlieferung einer redlichen Person erreicht, die von zwei Zeugen, die den Neumond gesehen haben, überliefert, so ist nach den Schafiiten und Hanbaliten der Neumond bestätigt und man ist verpflichtet zu fasten. Die Malikiten und Hanafiten sehen eine Vielzahl erforderlich, da ein Bericht dieser Art keine Überlieferung sei, sondern eine Zeugenaussage sein müsse und zwar von zwei unabhängig voneinander redlichen Personen, dass der jeweils andere den Neumond gesichtet hat. Dies gilt ebenfalls in Bezug auf eine Gruppe. Und wenn der Richter ein Urteil (über die Sichtung des Neumondes) fällt, so müssen auch zwei redliche Personen darüber berichten (bzw. dies überliefern). Wenn zwei Zeugen aussagen, dass sie den Neumond gesichtet haben, dies in der ersten Nacht erfolgte und danach bei Vollendung des 30. (des Schauwāl) der Neumond nicht zu sehen ist und der Himmel glasklar und unbewölkt ist, so sagte Mālik: „Sie sind zwei schlechte Zeugen.“ Daraufhin werden sie durch den Richter der Lüge (zwangsweise) bezichtigt. Sodann wird ihre Zeugenaussage in Frage gestellt, bis sie reumütig zurückkehren und ihr Zustand (der Redlichkeit) sich verbessert hat (bzw. wiederhergestellt ist.).

Was die Mehrheit oder eine Mehrzahl von Leuten angeht, so ist es nicht möglich, diese der Lüge zu bezichtigen, denn gewöhnlich ist hier die Richtigkeit aufgrund der Vielfältigkeit gegeben (sodass es unmöglich ist, dass einer gelogen oder den Bericht erfunden hat). Wenn der islamische Richter die Sichtung des Neumondes (schriftlich) verkündet, selbst ohne hierfür sein Hilfsmittel in seinem Schreiben zu erwähnen, so genügt dies. Ebenfalls gilt dies, wenn er das Ergebnis über Hörfunk oder im Fernsehen kundtut oder die Massenmedien diese Nachricht verbreiten, so genügt dies als Bestätigung für die Sichtung des Neumondes (und die daraus resultierende Pflicht zu fasten).

[1] Eine redliche Person ist u.a. eine vertrauenswürdige Person, die die großen Sünden unterlässt und den kleinen Sünden meistens aus dem Weg geht.

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