Moderator: Frage: Können wir sagen, dass der Maßstab für rechtschaffene Taten von Muslimen in nicht-islamischen Ländern sich vom Maßstab derer Muslime unterscheidet, die in islamischen Ländern leben, sodass die ersteren mehr gute Taten bekommen aufgrund der Versuchungen und Prüfungen?
Scheich Salim asch-Schaikhi: Zunächst müssen wir zwei Punkte vorab erklären sowie zwei Grundsätze nennen. Denn diese Frage häuft sich: Erhalten wir Muslime im Westen mehr Lohn für unsere Taten als diejenigen Muslime im Osten? Wenn jemand in einem Land lebt, in dem viele Versuchungen und Gelüste vorherrschend sind, erhält er dann mehr Lohn? Daher müssen wir genau differenzieren, wenn wir die Frage beantworten wollen.
1. Die guten und schlechten Taten entstehen nicht aus dem Nichts und auch nicht aufgrund von Nichts. Gemeint ist: Ein Rechenschaftspflichtiger (mukallaf) setzt eine Tat um, sei sie gut oder schlecht, weil er als Mensch Gefühle hat und seine Umgebung ihn beeinflusst. Er vollbringt diese Taten also nicht einfach aus dem Nichts heraus. Wenn jemand also in einem Land lebt, in dem die guten Taten leicht zugänglich sind: Er kann Ratschläge geben, das Rechte gebieten und das Schlechte verbieten, er lebt unter guten, rechtschaffenen Menschen. Eine solche Umgebung wird zweifellos sein Herz und seine Gefühle und Sinne beeinflussen. Aufgrund dieser Umgebung wird er es leichter haben, gute Taten zu verrichten. Er wird einen höheren Ansporn haben, die gute Freundschaft pflegen, „ein rechtschaffener Kamerad gleicht einem Moschus-Verkäufer“[1], und alle guten Taten verrichten, soweit man dazu imstande ist. Man darf nicht – so Mālik – in einem Land leben, in dem die Prophetengefährten (Ṣaḥāba) beleidigt werden oder sehr viele sündhafte Taten vorherrschend sind.[2]
Der Gegensatz: Jemand, der in einem Land lebt, in dem sich sehr viele Sünden häufen, der Weg zu ihnen leicht ist, sie einen umgeben und verlocken, sie zu begehen, ist anders zu beurteilen als der vorige. Befindet sich somit jemand in einem Land, in dem die großen Sünden überwiegend sind – Allah bewahre –, man vom Wege Allahs abgeirrt werden kann, während man aber in der Lage ist, sich selbst zu beherrschen, Allah um Beistand bittet, sein Ego zu überwinden, dass er auf Seinen rechten Weg G bleibt, obwohl dieses Land ihm nicht zu den guten Taten verhilft und trotz dessen setzt er sie um, dann ist dies ohne Zweifel ein darüber hinausgehendes Plus im Gehorsam. Die Belohnung für dieses „Mehr“ geht bei Allah gewiss nicht verloren. Dieser erste Punkt ist wichtig.
2. Im Laufe des Lebens ändert sich die Kraft des Menschen hinsichtlich der Gelüste und dass er zu den guten und schlechten Taten neigt. Wenn er in seinen jungen Jahren, in denen seine Begierde brennt bzw. am stärksten ist, sie unterdrückt, sie gemäß dem Weg Allahs nutzt und damit zu den gereinigten Menschen gehört, dann kommt ihm mehr Lohn zuteil, da er sich mehr anstrengt und seine Triebseele abmüht.
Ist aber jemand von hohem Alter und vom Weg abgekommen, weil er z.B. illegalen Geschlechtsverkehr (zinā) begangen hat – Allah bewahre –, obwohl seine Begierde und die vorbeugenden Handlungen geringer ausfallen als die des jungen Mannes, so ist dies bei Allah eine gefährliche Sache. Er gehört zu den drei Personen, die Allah am Tage der Auferstehung weder ansprechen noch läutern wird, nämlich ein alter Mann, der zinā beging.[3] Diese zwei einführenden Punkte sind wichtig und sie geben uns zu verstehen, dass der Mensch ein Mehr im Gehorsam erreichen kann.
Kommen wir zu den zwei Grundsätzen, lass sie mich gerade noch kurz erwähnen:
1. Grundsatz: Es wurde authentisch von ʿĀʾischa überliefert, dass der Prophet ﷺ sagte, dass der Lohn für eine Tat entsprechend der Erschwernis, Anstrengung und Bemühung zugutekommt.[4] Diese Erschwernis darf sich der Mensch aber nicht selbst antun, z.B. will er etwa bei kaltem, regnerischem Wetter die Gebetswaschung vornehmen und verwendet hierfür kaltes statt warmes Wasser, das er hat. Ich spreche von der Erschwernis, die unmittelbar mit der gottesdienstlichen Handlung (ʿibāda) zusammenhängt. Er fastet z.B. einen sehr langen Tag oder er muss, weil er keine andere Wahl hat, die Gebetswaschung mittels Wasser verrichten, das ihn zwar nicht krank werden lässt, es ihm aber schwermacht. Solche Taten sind zweifellos ein Mehr im Gehorsam und Allah lässt gewiss den Lohn der Rechtschaffenen nicht verloren gehen (siehe 9:120, 11:115, 12:90).
2. Grundsatz: Die Absicht
Die Menschen unterscheiden sich entsprechend ihrer Absichten. Wer in einem Land gute Taten für Allah verrichtet, in dem die Sünden vorherrschend sind, seinen Blick senkt, sich selbst bewahrt und von den Gelüsten fernhält – aus īmān[5] heraus und der Hoffnung auf die Belohnung –, so fällt sie nicht gleich aus, wie bei jemanden, der diese Handlungen zwanghaft vornimmt. Das ist ein gewaltiger Unterschied. In dieser Sache unterscheiden sich also die Menschen aufgrund ihrer Absichten.
[1] Sahih al-Buchārī, Kapitel 34, Hadithnr. 2101; siehe auch Sahih al-Buchārī Kapitel 72, Hadithnr. 5334; Sahih Muslim, Kapitel 45, Hadithnr. 2628; Sunan Abī Dāwūd, Kapitel 43, Hadithnr. 4829 ff.
[2] Siehe auch das Video „Sh. Salim asch-Schaikhi – „Ich fürchte um mich und meine Familie im Land des Unglaubens““.
[3] Sahih Muslim, Kapitel 1, Hadithnr. 107.
[4] Sahih al-Buchārī, Kapitel 26, Hadithnr. 1787; Sahih Muslim, Kapitel 15, Hadithnr. 1211.
[5] Dieser Fachbegriff wird oft mit „Glaube“ übersetzt. Das ist nur insofern richtig, wenn die Verbform gemeint ist. Das Nomen „Glaube“ meint hingegen per Definition eine „gefühlsmäßige, nicht von Beweisen oder Fakten bestimmte unbedingte Gewissheit oder Überzeugung.“ Dies wird dem Begriff des īmān nicht gerecht.