Moderator: Scheich, wie lautet die islamische Bestimmung (ḥukm) für das Blindfolgen bzw. Nachahmen (taqlīd) in der Glaubenslehre (ʿaqīda)?
Scheich Muhammad al-Hassan al-Dadaw: Die richtigere Ansicht (rājiḥ) lautet, dass das Blindfolgen hier ḥarām ist, weil Allah die Götzendiener deswegen verurteilte, als sie sagten:
„…Wir haben bei unseren Vätern eine bestimmte Glaubensrichtung vorgefunden, und wir treten in ihre Fußstapfen.“ (43:22 f.)
Einige Kalām[1]-Gelehrten sprachen über diese Thematik und al-Suyūṭī erwähnte die Meinungsverschiedenheit in „al-Kaukab as-sāṭiʿ“:
يَـمْــتــَنِـعُ الــتَّـــقْلِيدُ فـي الْـعَــــــقَــائِدِ *** لِــــلْــفَــخْـــرِ وَالأُســـْتَــاذِ ثُـــــــمَّ الآمِــــــــــــــدِي
وَالْــعَــنْــبَــرِي جَوَّزَهُ وَقَــدْ حَــــظَــرْ *** أَسْـــلاَفُنَا كَالشَّافِعِي فِــيـــهَـا النَّـــــظَرْ
ثُــــــــمَّ عَــــلَـــــى الأَوَّلِ إِنْ يُـــقَــــــــــــــــــــلِّدِ *** فَمُؤْمِنٌ عَـــــاصٍ عَـــلَـــى الْمُــعْــــــــــــتَــمَدِ
لَـــكِـــنْ أَبُــــو هَاشِمِ لَــمْ يَــــعْـــــــــــــتَبِرِ *** إِيمَـــــانَـــــهُ وَقَدْ عُــــــــزِي لِـلأَشْـــعَــــــــــــــرِيْ
قَـــالَ القُشَيْرِيُّ عَلَيْهِ مُـــفْــــتَـــرَى *** وَالْــحَــقُّ إِنْ يَأْخُذْ بِقَوْلِ مَـــنْ عَـــــــــــــرَا
بِـــغَيْرِ حُــــجَّـــــــةٍ بِـــأَدْنَـــــى وَهْــــــــــــــمِ *** لَـــــمْ يَــــكْـــــفِــــهِ وَيَـــكْـــتَـــــفِي بِــالْــــجَـــــــــــزْمِ
„Blind zu folgen ist im Glauben nicht gestattet,[2]
laut Fakhr[3] (ad-Din al-Rāzī), al-Ustāḏ[4] und dann al-Āmidī[5],
(ʿUbaidullāh) al-ʿAnbarī[6] aber sah es als erlaubt an,[7]
unsere Vorfahren wie asch-Schāfiʿī warnten davor,
(dass Laien) sich damit (mit Kalām) zu beschäftigen.[8]
Der erste Standpunkt heißt,
wer blind folgt, der sündigt, aber Muslim bleibt.
Abū Hāschim[9] dagegen sah, nachgeahmter īmān sei nicht zu akzeptieren,[10]
und berief sich auf al-Aschʿarī.
Al-Quschairī[11] entgegnete: ‚Diese Meinung wird al-Aschʿarī fälschlich zugeschrieben.‘
Die Untersuchung dieser Sache ergibt,
wer die Aussagen eines anderen, ohne Beweis übernimmt,
dabei keine feste Überzeugung gewinnt,
die Möglichkeit besteht, dass es nicht die Wahrheit sein muss unbedingt,
dann wird diese Art der Nachahmung bei keinem (Gelehrten) akzeptiert.“[12]
Die stärkere Ansicht (rājiḥ) in dieser Meinungsverschiedenheit ist, dass die Nachahmung (taqlīd) unerlaubt ist. Gemeint ist mit „taqlīd“ in diesem Kontext, jemandem zu folgen, der fehlbar ist und ohne dessen Beweis zu kennen. Wenn der Mensch aber von seinen Eltern islamisch erzogen und gelehrt worden ist, dann kann er eine Gewissheit (yaqīn) entwickeln in Bezug darauf, was Allah ihn verstehen lässt. Gewissheit entsteht nicht nur durch einen Denkprozess. Viele Leute glauben, dass die Theologie sich nur in argumentativen Beweisen findet. Das ist so nicht richtig, da Allah in der Geschichte von Ibrāhīm sagte:
„Und so zeigten Wir Ibrāhīm das Reich der Himmel und der Erde, damit er einer von denen sei, die Gewissheit hegen.“ (6:75)
Als Ibrāhīm „Mein Herr, zeige mir, wie Du die Toten wieder lebendig machst“, sagte, sprach Er: „Glaubst du denn nicht?“ Er sagte: „Doch, aber mein Herz soll Ruhe finden.“ Er sprach: „Dann nimm vier Vögel, richte sie auf dich zu (und schlachte sie). Sodann lege auf jeden Berg ein Stück von ihnen, und dann rufe sie. Sie werden zu dir eilends kommen…“ (2:260)
Das sind die Zeichen, die Allah Seinem Diener persönlich schickt, wie z.B., dass Er ihn Wunder aus Seinem Königreich oder Beweise für Seine Allmacht (qudra) sehen lässt, um ihn im īmān[13] zu festigen. Dadurch ist die Person dann kein Nachahmer (muqallid) mehr. Die negative Form von taqlīd ist, wenn die Person sagt: „Ich hörte die Leute dies und jenes sagen, also wiederholte ich es.“ Würde man ihn im Grab „Wer ist dein Herr?“, „Was ist deine Religion?“ und „Was weißt du über diesen Mann?“ fragen, würde er stotternd antworten: „Ich weiß nicht. Ich hörte, was einige Leute sagten, und habe dies einfach nachgesagt…“[14]
Diese Form ist verboten aufgrund der (eben genannten) Überlieferung von Asmāʾ in „Sahih al-Buchārī“ und „Sahih Muslim“.
[1] Systematische Theologie (kalam) ist eine Wissenschaft, mittels derer Glaubensdogmen mit rationalen Argumenten begründet werden, um die Religion gegen Neuerer zu verteidigen, indem man Zweifel beseitigt und Scheinargumente entkräftet; siehe das Video „Sh. Muhammad ad-Dadaw – Systematische Theologie (kalam)“.
[2] Beweise: 43:22 f. und 53:23.
[3] Persischer Philosoph (544–606 H.) und Großgelehrter im Bereich der Theologie. Er verfasste auch Abhandlungen u.a. in der Medizin, Chemie und Physik.
[4] Gemeint ist al-Isfarāyīnī (337–418 H.), ein Theologe, Hadith- sowie Tafsīr-Gelehrter und Fakih der schafiitischen Rechtsschule aus Chorasan.
[5] Kurdischer Gelehrter (551–631 H.), Philosoph und Fakih der schafiitischen Rechtsschule aus Diyarbakır.
[6] Genealoge (100/106–168 H.), Fakih, Linguist und Richter in Basra zur Zeit des Abbasiden-Kalifat.
[7] Begründung: Der Prophet ﷺ akzeptierte den Islam der Wüstenaraber und wusste, dass sie einfache Menschen sind, die ihre Überzeugung nicht mit tiefgehenden, rationalen Argumenten verinnerlicht haben.
[8] Der Laie ist nämlich in seinem Wissen nicht gefestigt, setzt sich Scheinargumenten aus und kann dadurch in Glaubenszweifel geraten.
[9] Der Sohn von Abū ʿAlī al-Jubbāʾī, dem ehemaligen Lehrer von Abū al-Ḥasan al-Aschʿarī.
[10] Berechtigte Kritik erfuhr diese Ansicht. Denn sie gelangt zum Ergebnis, dass die Mehrheit der Laien keine Muslime ist.
[11] Sufist, Theologe (376–465 H.) Fakih und Tafsīr-Gelehrter aus Chorasan.
[12] Al-Suyūṭī, Al-Kaukab as-sāṭiʿ, Seite 85, Zeilen 1328–1333, Edition: Dār Ibn al-Jauzī.
[13] Dieser Fachbegriff wird oft mit „Glaube“ übersetzt. Das ist nur insofern richtig, wenn die Verbform gemeint ist. Das Nomen „Glaube“ meint hingegen per Definition eine „gefühlsmäßige, nicht von Beweisen oder Fakten bestimmte unbedingte Gewissheit oder Überzeugung.“ Dies wird dem Begriff des īmān nicht gerecht.
[14] Sahih al-Buchārī, Kapitel 3, Hadithnr. 86, Kapitel 96, Hadithnr. 7287; Sahih Muslim, Kapitel 10, Hadithnr. 905.