Moderator: Ist die Meinung, dass der Vormund (walī) keine Bedingung (der Eheschließung) ist, und die die Rechtsschule von Abū Ḥanīfa, Zufar, asch-Schaʿbī und al-Zuhrī darstellt, eine legitime Meinung?
Scheich Muhammad al-Hassan al-Dadaw: Zufar gehört ja zu den Gefährten von Abū Ḥanīfa, also muss man ihn nicht (explizit) erwähnen.
Moderator: Das stimmt, aber er wird (von den Gelehrten) erwähnt, um die Anzahl der Anhänger aufzuzeigen (und dass Abū Ḥanīfa nicht allein mit seiner Meinung ist). Die Mehrheit der Fakihs ist der Ansicht, dass der Vormund (walī) verpflichtend (wājib) ist, während Abū Ḥanīfa gegenteiliger Auffassung ist.
Dadaw: Genau, es ist eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Rechtsschulen.
Moderator: Von welcher Art ist diese? Stellt sie eine zulässige Meinungsverschiedenheit dar, die dem Menschen erlaubt, eine Ehe ohne Vormund (walī) zu schließen? Oder ist es eine Meinungsverschiedenheit, die unzulässig ist?
Dadaw: Es handelt sich um eine legitime Meinungsverschiedenheit. Denn jede Meinungsverschiedenheit unter den Imamen des Idschtihad ist legitim. Sh. al-Islām b. Taimīya erwähnte diese Angelegenheit bzw. die Aussage der Fakihs „Keine Kritik in Meinungsverschiedenheiten“ und sagte, diese müsse insoweit eingegrenzt werden, als dass die legitimen Meinungsverschiedenheiten gemeint sind. So existiert keine legitime Meinungsverschiedenheit, außer dass die Angelegenheit zuvor (durch die Gelehrten) untersucht wurde. Aus diesem Grund passte er die (eben erwähnte) Aussage so an, dass man vielmehr „Keine Kritik in den Idschtihad-Themen“ anstatt „Keine Kritik in Meinungsverschiedenheiten“ sagen solle.[1] Dies war die Ansicht von Sh. al-Islām b. Taimīya. Der hanafitische Gelehrte al-Kamāl b. al-Humām[2], Autor des Werkes „Fatḥ al-Qadīr“, bezog hierzu Stellung sagend: „Wenn sich erwiesen hat, dass Mālik, Abū Ḥanīfa, asch-Schāfiʿī und Aḥmad zum Idschtihad befugt sind – und dies hat sich erwiesen –, so ist jede Meinungsverschiedenheit (zwischen ihnen) eine Angelegenheit des Idschtihad (und damit legitim).“
Schließlich wissen wir, dass es eine (legitime) Angelegenheit ist, gerade weil die Idschtihad-Gelehrten unterschiedliche Ansichten haben.
Moderator: Seid Ihr aber der Meinung, dass der Verzicht auf einen Vormund (walī) eine legitime Meinung in Gestalt einer Erleichterung (rukhṣa) ist?
Dadaw: Nein, dieser Meinung bin ich nicht. Der Mensch sollte dies nicht tun. Würde er dies aber tun, weil er der Rechtsschule von Abū Ḥanīfa folgt, ohne hierbei seinen Neigungen bzw. Gelüsten zu folgen, oder er sieht die Meinung als richtiger (rājiḥ) an, dann lastet keine Sünde auf ihm.
Moderator: In Ordnung, Scheich. Erlaubt uns, eine Sendepause einzulegen und dann setzen wir fort, inschallah. (Sendepause) Wir setzen unser Gespräch fort, Scheich. Ihr erwähntet die gegenteilige Ansicht Abū Ḥanīfas und dass die Meinungsverschiedenheit (ohne Vormund zu heiraten) grundsätzlich legitim ist, sofern der Mensch sie wirklich als richtig erachtet, ohne dabei seinen Neigungen zu folgen. In dieser Sache tritt heute folgendes Phänomen auf: Eine gewisse Anzahl junger Männer – ich will nicht sagen, dass es viele oder wenige sind – aus Saudi-Arabien, dem Persischen Golf oder sei es aus irgendeinem anderen Land reist in weit entfernte Länder. Dort heiraten sie dann – unter dem Vorwand, dass es ja die Rechtsschule von Abū Ḥanīfa ist – ohne Vormund (walī).
Dadaw: Wenn diese Person weiß, dass diese Meinung vielen Beweisen widerspricht und sie dieser (Meinung) nicht aus ihren Neigungen heraus folgt, dann war sie (trotzdem) ungehorsam (gegenüber Allah). Nichtdestotrotz bleibt der Ehevertrag gültig und beide Parteien können Nachkommen und Erbe hinterlassen. Der Richter[3] entscheidet über den Sachverhalt und fällt ein entsprechendes Urteil über die Gültigkeit des Vertrages. Selbst wenn die Person also ihren Neigungen folgte, bleibt der Ehevertrag gültig, aber sie hat dann (aufgrund ihres Verhaltens) gesündigt.
Fragesteller: Was ist das Urteil über die Scheidung im Falle eines nichtigen Ehevertrags? Beispielsweise hat eine Frau basierend auf der Rechtsschule von Abū Ḥanīfa ohne Vormund (walī) geheiratet. Solche Fälle häufen sich sehr bei uns in Amerika. Die beiden Partner streiten sich und er lässt sich von ihr scheiden, ohne zuvor mit ihr verkehrt zu haben oder sogar nach dem Geschlechtsakt. Ist eine solche Scheidung deshalb ungültig, weil der Ehevertrag laut der Mehrheit der Gelehrten ungültig ist? Oder ist die Scheidung gültig, weil die Person nach der Rechtsschule von Abū Ḥanīfa geheiratet hat (und der Ehevertrag gültig ist)? Wie lautet hier das Urteil bzw. die richtigere Ansicht (rājiḥ)?
Moderator: Abū Jumāna fragte zunächst nach der Gültigkeit einer Scheidung, wenn der Ehevertrag nichtig ist.
Dadaw: Wenn (durch einen Richter oder befugten Imam) die Nichtigkeit eines Ehevertrages festgestellt wird, dann ist er (ohnehin) aufgehoben und eine Scheidung ist nicht erforderlich. Diese ist nur nach einem (wirksamen) Ehevertrag gültig, da der Prophet ﷺ sagte: „Es gibt keine Scheidung (einer Frau) oder Freilassung (eines Sklaven) seitens des Mannes, wenn er hierüber nicht verfügt…“[4]
Da man über einen nichtigen Ehevertrag nicht verfügen kann bzw. dieser keine Rechtsposition vermittelt, entfaltet er auch keinerlei Rechtswirkung. Somit bedarf es keiner Scheidung. Dies gilt aber nur, wenn der Ehevertrag tatsächlich nichtig ist. So erwähnte der Fragesteller, dass die Person bei der Eheschließung sich der Meinung von Abū Ḥanīfa bediente, der den Vormund (walī) nicht als Wirksamkeitsvoraussetzung (rukn) sieht. Ein solcher Ehevertrag ist nicht nichtig. Wenn jemand sich auf diese Meinung der Rechtsschule stützt, etwa weil man Hanafit ist oder diese Meinung als richtiger (rājiḥ) sieht, dann hat man einen legitimen Grund (dieser Meinung folgen zu dürfen). Der Ehevertrag bleibt daher rechtswirksam. Wer jedoch diese Meinung aus seinen Neigungen heraus nimmt, obwohl er weiß, dass sie kritisiert wurde und ihm (andere) Beweise vorliegen, die dieser (Meinung) zuwiderlaufen, so ist dies verboten. Ich mache die (zuschauenden) Geschwister darauf aufmerksam, dass wenn eine Angelegenheit eine Meinungsverschiedenheit zwischen der Ahl as-Sunna bzw. den anerkannten Imamen wie Abū Ḥanīfa und Co. ist, jeder von diesen seine Beweise haben muss. Ja, diese Beweise können verschiedener Art sein und ein jeder bewertet sie unterschiedlich als andere. Abū Ḥanīfas Vorgehensweise bzw. Rechtsschule ist nach der folgenden Regel zu gehen:
الزيادة على النص نسخ
„Jeder zusätzliche (oder konkretisierende) Text in Bezug auf den Offenbarungstext (Koran) ist abrogiert“.
Zudem erwähnte Allah im Kontext der Eheschließung den Vormund (walī) im Koran nicht, sondern sagte:
„…So haltet sie (die Frauen) nicht davon ab, ihre Gatten zu heiraten, wenn sie sich in rechtlicher Weise miteinander geeinigt haben…“ (2:232)
Jeder Text, der diesen (eindeutigen) Koranvers ergänzen will, ist abrogiert (aufgehoben) laut Abū Ḥanīfa. Das Abrogierende muss sich auf der gleichen Stufe wie den zu abrogierenden Teil befinden. Ein Bericht, der āḥād[5] ist, kann daher einen Text, der mutawātir[6] überliefert worden ist, nicht aufheben. Alles im Koran ist mutawātir. Alle Hadithe hingegen, in denen der Vormund (walī) erwähnt wird, erachtete Abū Ḥanīfa als āḥād. Andere Imame erreichten sie dagegen in mutawātir-Form. So überlieferten 20 edle Prophetengefährten (Ṣaḥāba), dass der Prophet ﷺ sagte:
لَا نِكَاحَ إِلَّا بِوَلِيٍّ
„Keine Heirat (nikāḥ) ohne Vormund (walī).“[7]
Ferner sagte der Prophet ﷺ im von ʿĀʾischa überlieferten Hadith:
أَيُّمَا امْرَأَةٍ نَكَحَتْ بِغَيْرِ إِذْنِ وَلَيِّهَا فَنِكَاحُهَا بَاطِلٌ فَنِكَاحُهَا بَاطِلٌ فَنِكَاحُهَا بَاطِلٌ (فَإِنْ دَخَلَ بِهَا فَلَهَا الْمَهْرُ بِمَا اسْتَحَلَّ مِنْ فَرْجِهَا) فَإِنِ اشْتَجَرُوا – أو قال : اخْتَلَفُوا – فَالسُّلْطَانُ وَلِيُّ من لَا وَلِيَّ لَهُ
„Jede Frau, die ohne Erlaubnis ihres Vormundes (walī) heiratet, deren Heirat ist ungültig, ungültig, ungültig! (Wenn er mit ihr verkehrte, so erhält sie eine Brautgabe (mahr) als Gegenleistung) Wenn sie (die Vormünder untereinander) sich streiten, dann ist der Sultan der (zuständige) Vormund (walī) einer jeden Frau, die keinen hat.“[8]
Die Hanafiten kritisierten den von Abū Mūsā al-Aschʿarī überlieferten Hadith „Keine Heirat ohne Vormund“, indem sie zwei Schwächen (ʿilla) erwähnten. Diese wurden seitens der Hadith-Gelehrten zurückgewiesen. Selbst wenn man annehmen würde, dass diese Mängel berechtigt sind, so betreffen diese nur einen von 20 Hadithen. Abū Mūsā überlieferte schließlich den Hadith nicht allein, sondern 19 weitere Prophetengefährten überlieferten ihn in gleicher Form.
Die richtigen Beispiele, in denen der Ehevertrag nichtig ist, sind also folgende: eine fünfte Frau, eine Frau, die Maḥram ist, oder eine Frau, die keine Schriftbesitzerin oder Muslima ist – etwa eine Buddhistin oder Zoroastrierin etc. –, zu heiraten. Hier ist keine Scheidung erforderlich und weder die Regeln der Nachkommen- und Erbschaft noch irgendeine rechtliche Bestimmung finden Anwendung. Und wenn einer der beiden Parteien zur Heirat gezwungen wird oder mit der anderen Partei nicht einverstanden ist, dann bedarf es keiner Scheidung, da ein solcher „Ehevertrag“ auch in diesen Fällen von Anfang an nichtig ist.
[1] Siehe auch das Video „Sh. ad-Dadaw & al-Majid – Keine Kritik in Meinungsverschiedenheiten“.
[2] In Ägypten geborener Gelehrter (790–861 H.), Tafsīr-Gelehrter und Fakih der hanafitischen Rechtsschule, der türkischen Ursprungs ist.
[3] Oder auch der befugte Imam eines islamischen Zentrums.
[4] In leicht unterschiedlichen Wortlauten: Sunan Abī Dāwūd, Kapitel 13, Hadithnr. 2190; Jāmiʿ al-Tirmiḏī, Kapitel 13, Hadithnr. 1181; Sunan Ibn Mājah, Kapitel 10, Hadithnr. 2047; Musnad Imam Aḥmad, Hadithnr. 6769.
[5] Was nicht die Stufe von mutawātir erreicht.
[6] Ununterbrochen so vielfach überliefert, dass die Einigung der Überlieferer auf eine Lüge, Absprache oder ein Zufall unmöglich ist.
[7] Sunan Abī Dāwūd, Kapitel 12, Hadithnr. 2085; Jāmiʿ al-Tirmiḏī, Kapitel 11, Hadithnr. 1101, 1108; Sunan Ibn Mājah, Kapitel 9, Hadithnr. 1880 f.; Musnad Imam Aḥmad, Hadithnr. 19518.
[8] Sunan Abī Dāwūd, Kapitel 12, Hadithnr. 2083; Jāmiʿ al-Tirmiḏī, Kapitel 11, Hadithnr. 1102; Sunan Ibn Mājah, Kapitel 9, Hadithnr. 1879; Musnad Imam Aḥmad, Hadithnr. 24205; al-Ruwayānī, Baḥr al-maḏhab fī furūʿ al-maḏhab aš-šāfiʿī, Band 9, Seite 36, Edition: Dār al-Kutub al-ʿIlmīya.