Dürfen Muslime sich politisch beteiligen? | Sh. Muhammad ad-Dadaw

Moderator: Wie sieht unser Beitrag in der Gesellschaft als Muslime im Westen aus? Wie verhält es sich mit der politischen Teilhabe? Dürfen Muslime sich im Islam politisch beteiligen?

Scheich Muhammad al-Hassan al-Dadaw: Die politische Teilhabe ist islamisch gesehen erforderlich, nicht lediglich akzeptabel. Schließlich ist es dein Recht, deine Meinung frei zu äußern, das Regierungssystem auszuwählen und jemanden auszusuchen, der dich regiert. Dem zu widersprechen, führt zur Politikverdrossenheit. Eine solche negative Einstellung ist zu tadeln. Wer sich nämlich gar nicht (politisch) beteiligt, wird zulassen, dass andere über ihn bestimmen können. Diese anderen können in deiner Religion, deinem Vermögen und deiner Gesundheit Einfluss nehmen. Sie können dann nach ihrem Belieben Regeln und Gesetze festlegen. Muslime müssen sich in diesen politischen Angelegenheiten beteiligen.

Moderator: Auch wenn es sich um ein demokratisches System handelt?

Dadaw: Ja, sie müssen gute Ziele verfolgen und die schlechten meiden. Allah sagte:

„…Wer nicht nach dem waltet, was Allah herabgesandt hat, das sind die Ungläubigen.“ (5:44)

„…Wer nicht nach dem waltet, was Allah herabgesandt hat, das sind die Ungerechten.“ (5:45)

„…Wer nicht nach dem waltet, was Allah herabgesandt hat, das sind die Frevler.“ (5:47)

Er erwähnte diese Worte aber in einem bestimmten Kontext. Diese rechtlichen Bestimmungen dürfen daher nicht für sich allein betrachtet werden. Es gibt keine Sure, die nur den erstgenannten Koranvers zum Gegenstand hat. Kontext: Die Juden hatten ihre Scharia (Lebens- und Gesetzesordnung), die auf die Tora basierte, ausgewechselt. Jeder, der Seine Ordnung ersetzt, sei es ein Muslim, Jude oder Christ, ist ein Leugner bzw. Ungläubiger (kāfir). Denn er hat eine Offenbarung Allahs ersetzt. Ebenso ist er ein Ungerechter, da Allahs Ordnung eine Gerechtigkeit für alle Menschen ist. Er ist ebenfalls ein Frevler aufgrund der Handlung (das Ersetzen). Dieses Ersetzen steht auf drei Stufen (bzw. bildet drei Zustände ab):

  • Man schreibt selbst festgelegte Regeln und Gesetze Allah zu, obwohl dies in Wirklichkeit nicht so ist. Dies ist die höchste Stufe des Unglaubens (kufr).
  • Man kommt mit einer eigenen Ordnung und behauptet, sie sei besser als diejenige Allahs. Auch diese Stufe stellt Unglauben (kufr) dar.
  • Man sagt, dass Allahs Ordnung zwar richtig sei, aber man setzt sie nicht um und folgt ihr absichtlich nicht. Dies läuft dem Befehl Allahs zuwider.

So sind die Verse gemeint. Im Falle einer Gesetzgebung durch das Parlament kann dieses jedoch keine neue Ordnung bzw. Religion oder gottesdienstliche Handlung (ʿibāda) festlegen. Vielmehr erlässt es Gesetze, die alltägliche, zwischenmenschliche Beziehungen behandeln. Muslime haben sich ebenfalls daran zu halten. Wenn aber das Parlament z.B. ribā[1] erlaubt, dann bleibt dies für die Muslime nach wie vor verboten. Das gilt ebenfalls, wenn es illegalen Geschlechtsverkehr (zinā) und das Berauschende (khamr) erlauben würde. Für Muslime bleibt all dies verboten.

Verbietet es aber, dass man über Rot fahren darf, haben sich die Muslime daran zu halten. Wenn ein (vom Parlament erlassenes) Gesetz vorsieht, dass in einem bestimmten Bereich Parkverbot herrscht, haben Muslime sich daran zu halten. Dies gilt ebenfalls, wenn das Parlament (gesetzlich) verbietet, Preise zu erhöhen, Geld zu fälschen, ein Mindesthaltbarkeitsdatum zu ändern oder geschützte Marken nachzuahmen usw. An diese Strafgesetze bzw. Vorschriften haben sich Muslime zu halten. Verabschiedet das Parlament ein Gesetz, das einen Mindest- oder Höchstlohn des Arbeitnehmers regelt, müssen Muslime sich daran halten. Selbst wenn die Regeln so weit gehen, dass sie sich auf bestimmte Zertifizierungen im Bewerbungsprozess für einen Beruf beziehen, so müssen Muslime – wie jeder andere auch – sich daran halten.

[1] Nach den Hanafiten ist ribā eine Art Zuwachs; die anderen drei Rechtsschulen definieren ribā als „Finanzkontrakt, der ḥarām ist“. Nicht alles, was Zins heißt, muss ribā sein. Es wäre daher ungenau, den Fachbegriff „ribā“ mit „Zinsen“ zu übersetzen.

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