Die Stufen der Gelehrten | Sh. Muhammad ad-Dadaw

Scheich Muhammad al-Hassan al-Dadaw: Die Gelehrten der islamischen Rechtstheorie (uṣūl al-fiqh) unterscheiden zwischen sechs Stufen der Muftis:

1. Die höchste Stufe: Der absolute Mudschtahid (mujtahid al-muṭlaq)

Dieser ist sowohl Mudschtahid in den Fundamenten (uṣūl) als auch in den Wissenschaftszweigen (furūʿ). Er ahmt (taqlīd) niemanden nach. Vielmehr nimmt er den Muṣḥaf zu sich, liest einen Koranvers und leitet aus diesem ein Urteil ab. Oder er entnimmt aus „Sahih al-Buchārī“, „Sahih Muslim“ oder „Muwaṭṭaʾ Imam Mālik“ einen Hadith, aus dem er ein Urteil ableitet.[1] Diese Art des Mudschtahids wird als „der absolute Mudschtahid“ bezeichnet und unterliegt besonderen Regeln…

Moderator: Gibt es in unserer heutigen Zeit jemand von dieser Stufe?

Dadaw: Allah weiß es am besten. Wenn jemand diese Stufe beansprucht und dies bezeugt wurde, dann sagen die Gelehrten der islamischen Rechtstheorie, dass der lebende Mudschtahid vorzugswürdiger ist gefolgt zu werden als der verstorbene. Denn der bereits verstorbene könnte von einigen seiner Ansichten zurücktreten, wenn sich die zeitlichen oder örtlichen Umstände ändern. Deswegen hat der lebende Mudschtahid einen Vorrang, dass man ihm folgt, gegenüber dem verstorbenen.

2. Stufe: Der sich anschließende Mudschtahid (mujtahid al-tābiʿ)

Er gleicht dem ebengenannten Mudschtahid hinsichtlich der Informationen, der Wissensstufe, seinem Verständnis und der Erfassung von Sachverhalten mit dem Unterschied, dass er sich bereits erzielten Idschtihad-Ergebnissen eines bestimmten Mudschtahids anschließt. So folgt er ihm in seinen Regeln und im Umgang mit den Offenbarungstexten. Er stimmt mit ihm überein, dass dieser Befehl wiederholend vorkommt, verpflichtend ist oder dass dieser Befehl sofort umzusetzen gilt oder eine Untersagung mit einem Unheil zusammenhängt usw.

Moderator: Diese Art hält sich also an den Prinzipien und Grundsätzen eines Imams fest?

Dadaw: (Ja) Er ist ein Mudschtahid innerhalb einer Rechtsschule eines Imams, dem er sich anschließt. Er ist aber auf der gleichen Stufe wie der Imam selbst. Deshalb darf er (der Mud-schtahid) ihm widersprechen (bzw. abweichende Meinungen vertreten). Beispiele: Abū Yūsuf, Muḥammad b. al-Ḥassan (asch-Schaibānī) und Zufar in der Rechtsschule von Abū Ḥanīfa, ʿAbdur-Raḥmān b. al-Qāsim (al-ʿUtaqī) und Aschhab (b. ʿAbdil-ʿAzīz) in der Rechtsschule von Mālik, al-Muzanī, al-Buwaiṭī und al-Rabīʿ b. Abī Sulaimān in der Rechtsschule von asch-Schāfiʿī.

Moderator: Entschuldigt kurz, Scheich. Wir weisen die Zuschauer darauf hin, dass sie uns unter den jeweiligen Rufnummern erreichen und dem geehrten Scheich eine Frage stellen können. Allerdings bitten wir darum, dass die Fragen sich auf das Thema der heutigen Folge beziehen, inschallah.

Dadaw: Dann noch (Abū Bakr) al-Khallāl (in der Rechtsschule von Imam Aḥmad b. Ḥanbal) usw.[2]

Moderator: Sie haben also die gleiche Vorgehensweise wie die der Rechtsschule, richtig?

Dadaw: Genau. Sie können ihr widersprechen.

3. Stufe: Der entwickelnde Mudschtahid (mujtahid al-takhrīj)

Gemeint ist derjenige, der eine bestimmte Rechtsschule gelernt hat, und sich an die Fundamente und Wissenschaftszweige dieser Schule hält. Jedoch ist er in der Lage, neue Ansichten zu entwickeln, da er den Umgang des Imams mit den Offenbarungstexten verstanden hat. Wenn du ihn über eine Angelegenheit befragen würdest, über die der Imam nicht sprach, könnte er (der Mudschtahid) eine Ansicht entwickeln, die der Meinung des Imams entsprechen würde, indem er sagt: „Dies stimmt mit den Regeln der Rechtsschule Soundso überein.“ Oder: „Dies wird nicht eindeutig erwähnt, aber nach den Prinzipien der Rechtsschule bedeutet es dies und jenes.“ Viele Imame innerhalb der Rechtsschule fallen unter dieser Stufe.

4. Stufe: Der abwägende Mudschtahid (mujtahid al-tarjīḥ)

Dieser kann keine (neue) Ansicht entwickeln, findet aber bereits fundierte Ansichten voriger Gelehrten vor oder einen Meinungsstreit, den sie hatten. Oder er findet einige Meinungen der Rechtsschule oder über den Imam überlieferte Ansichten vor, die er (der Mudschtahid) abwägt bzw. mittels eines Beweises, in Übereinstimmung mit den Regeln des Imams oder den Zwecken der Scharia entscheidet er, was „richtiger“ (rājiḥ) ist.

Moderator: Ich meine, die meisten Forscher und Muftis heutzutage sind von dieser Stufe.

Dadaw: Nein, zu ihrer Stufe kommen wir noch. Sie befinden sich noch darunter.

(Moderator lacht)

5. Stufe: Der Fatwa-Mudschtahid (mujtahid al-futyā)

Dieser betrifft uns heute am meisten. Gemeint ist, wer zu den Rechtsschulen jede Fatwa bzw. Rechtsansicht kennt. Schließlich finden sich in jeder Rechtsschule immer viele, diverse Ansichten vor. Abū Yaʿlā überliefert über Imam Aḥmad, dem vierten Imam und Mudschtahid, 13 Rechtsfragen, zu denen dieser jeweils zehn Ansichten hatte.

Moderator: In einer einzigen Angelegenheit von Imam Aḥmad?

Dadaw: 13 Angelegenheiten und zu jeder werden zehn Ansichten von Imam Aḥmad überliefert. Asch-Schāfiʿī besitzt die alte und die neue Rechtsschule.[3] Bei Mālik fand ich 198 Ansichten vor, von denen er zurückgetreten ist und sich neuen angenommen hat. Über Abū Ḥanīfa gibt es andere Ansichten, die Muḥammad b. al-Ḥassan asch-Schaibānī in seinen sechs Werken zusammenerstellte, die man „Wajh al-riwāya“[4] nennt. Ein anderes Werk heißt „al-Nawādir“ und es beinhaltet noch andere überlieferte Ansichten über Imam Abū Ḥanīfa. Der Mudschtahid (dieser fünften Stufe) beherrscht die Rechtsschule. Deshalb kennt er die zu berücksichtigende Meinung der jeweiligen Rechtsschule. Er sagt z.B.: „Hier gibt es sechs Ansichten in dieser Rechtsschule, aber es gilt die x-te.“

Moderator: Er weiß also welche Ansicht die richtigere ist?

Dadaw: Nur innerhalb der Rechtsschule. Er bezieht sich hierbei auf Abwägungsergebnisse voriger Gelehrten.

Moderator: Wie Ibn ʿĀbidīn z.B.?

Dadaw: Genau.

6. Stufe: Der Hineinblickende (mutabaṣṣir)

Dies ist die niedrigste Stufe. Dieser kennt die Meinungsverschiedenheiten und Beweise der Mudschtahid-Gelehrten, ohne dabei eine der jeweiligen Rechtsschule komplett zu beherrschen. Er kennt die ihm gestellte Rechtsfrage, die Meinungen und Beweise der Leute des Wissens hierzu. Er wählt die entsprechende Meinung aus oder nimmt eine Abwägung vor.

Moderator: Dies kommt nach dem Fatwa-Mudschtahid, es ist eine niedrigere Stufe?

Dadaw: Ja, weil der Mudschtahid (der letzten Stufe) die (bereits existierende) Meinung lediglich auswählt, auch wenn er nur gewisse Bereiche der Rechtsschule beherrscht. Dies waren diejenigen, die eine neue Meinung bilden. Das ist der Unterschied zu demjenigen, der etwas berichtet.
Denn Allah verwies im Falle der Unwissenheit auf die Leute des Wissens, indem Er sagte:

„…Fragt die Leute der Ermahnung, wenn ihr (etwas) nicht (weiter) wisst.“ (16:43; 21:7)

Ebenfalls verwies Er auf sie im Falle der Uneinigkeit in einer Sache. So sagte Er:

„Und wenn ihnen eine Angelegenheit zu (Ohren) kommt, die Sicherheit oder Furcht betrifft, machen sie es bekannt. Wenn sie es jedoch vor den Gesandten und den Befehlshabern unter ihnen brächten, würden es wahrlich diejenigen unter ihnen wissen, die es herausfinden können…“ (4:83)

Er sagte nicht „So würden es alle wissen“, sondern „diejenigen unter ihnen, die es herausfinden können“.

Moderator: Die meisten Muftis von heute sind also auf der sechsten Stufe?

Dadaw: Genau.

[1] Beispiele: die vier Imame, Imam al-Ẓāhirī, Imam al-Auzāʿī und Imam al-Ṭabarī.

[2] Weitere Beispiele in der hanbalitischen Rechtsschule, die der Scheich noch erwähnen wollte: Ibn Qudāma, Ibn Taimīya und Ibn Rajab.

[3] Als Imam asch-Schāfiʿī von Ägypten in seine Heimat zurückkehrte, hatte er viele seiner Ansichten geändert.

[4] Oder auch: „Ẓāhir al-riwāya“.

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