Moderator: Was ist die heutige Rolle der Ulema?
Scheich Muhammad al-Hassan al-Dadaw: Sie müssen sich für ihre Bevölkerung einsetzen und ihr klarstellen, was ihre Rechte sind und was nicht. Sie müssen aufzeigen, was die gegenwärtige Ungerechtigkeit ist, weil viele Menschen nicht unterscheiden können, was genau Unrecht ist und was nun nicht. Diejenigen, die genau wissen was unter Ungerechtigkeit fällt und was nicht, sind die Ulema. Sie wissen genau, was das Volk gegenüber wem mehr Anrecht (auf etwas) hat oder nicht. In Wirklichkeit sind sie die Waage, durch die man weiß, wer Unterdrücker oder Tyrann ist und wer nicht. Einigen Leuten fällt es leicht, alle Herrscher als Tyrannen zu bezeichnen. Es fällt ihnen leicht, jeden Herrscher zu einem Nicht-Muslim zu erklären. Allerdings wissen die Ulema, wer als Muslim gilt und wer nicht oder wer als Tyrann gilt oder nicht.
Moderator: Den Unterschied zum Unterdrücker auch.
Dadaw: Den Unterschied zwischen dem Unterdrücker und wer es nicht ist. Es kann auch sein, dass der Herrscher nur teils ungerecht ist. Denn es ist schwierig die Behauptung aufzustellen, dass ein Herrscher überhaupt nicht ungerecht ist, jedoch dass er ungerecht in mehreren Angelegenheiten und Bereichen ist. Ist die Ungerechtigkeit (bzw. der Schaden) des Herrschers größer als sein Nutzen? So lautet die Frage bei der Gewichtung und Beurteilung (der Herrscher durch die Ulema). Heute gibt es keinen Herrscher, der frei von jeglicher Ungerechtigkeit ist. Allerdings muss der Schaden immer differenziert beurteilt werden und ist mal schwerwiegender, mal nicht. Ich erwähnte zuvor den Hadith, den al-Tirmiḏī in seinem Werk „al-Sunan“ überliefert.
Er sagte: „Uns überliefert Abū Bakr al-Jauzānī, dieser von Nuʿaim b. Ḥammād, dieser von Sufyān b. ʿUyayna, dieser von Abī al-Zinād, dieser von al-Aʿraj und dieser von
Abī Huraira , dass der Gesandte Allahs ﷺ sagte:
إِنَّكُمْ فِي زَمَانٍ مَنْ تَرَكَ مِنْكُمْ عُشْرَ مَا أُمِرَ بِهِ هَلَكَ ثُمَّ يَأْتِي زَمَانٌ مَنْ عَمِلَ مِنْهُمْ بِعُشْرِ مَا أُمِرَ بِهِ نَجَا
‚Ihr befindet euch in einer Zeit, in der wenn jemand ein Zehntel von dem, was ihm befohlen wurde, verweigert, er untergehen wird. Sodann wird eine Zeit kommen, in der wenn jemand ein Zehntel von dem, was ihm befohlen wurde, befolgt, er errettet sein wird.‘[1]
Ebenso erwähnten wir die Fikh-Regel von al-ʿIzz b. ʿAbdis-Salām[2] in seinem Werk „Qawāʿid al-aḥkām fī maṣāliḥ al-anām“: Der Frevel (fisq) der Herrscher ist unterschiedlich ausgestaltet. Wessen Frevel sich gegen das Leben (anderer) richtet (Töten), so ist dies schwerwiegender als die Frevel aufgrund von sexuellen Übergriffen (gegenüber Frauen) und diese Art von Frevel (des Herrschers) ist schwerwiegender als die Frevel durch die Verletzung der Vermögensrechte der Menschen. Man nimmt das geringe Ḥarām und den geringeren Schaden (mafsada) in Kauf.[3]
[1] Jāmiʿ al-Tirmiḏī, Kapitel 33, Hadithnr. 2267.
[2] Syrischer Gelehrter (577–660 H.), Kadi und Fakih der schafiitischen Rechtsschule.
[3] Vgl. al-ʿIzz b. ʿAbdis-Salām, Qawāʿid al-aḥkām fī maṣāliḥ al-anām, Band 1, Seite 86, Edition: Maktabat Kullīyāt al-Azharīya.