Moderator: Es existiert die sog. „Cancel Culture“. Gemeint ist, dass wenn jemand einer „vorherrschenden“ Meinung widerspricht, gecancelt bzw. mundtot gemacht wird.[1] Ist eine solche Vorgehensweise angemessen in Bezug auf Gelehrten, die vielleicht eine unbekannte Meinung vertreten?
Scheich Muhammad al-Hassan al-Dadaw: Die Cancel Culture verstößt gegen das grundlegende Konzept der Gerechtigkeit. Das Universum ist das Ergebnis dieser. Allah befahl uns:
„…Wenn ihr sprecht, seid gerecht…“ (6:152)
„…Der Hass gegen bestimmte Leute soll euch nicht dazu verleiten, nicht gerecht zu sein. Seid gerecht, das ist näher zur taqwā[2]…“ (5:8)
„Allah gebietet Gerechtigkeit, gütig zu sein und den Verwandten zu geben…“ (16:90)
Ein Prinzip der Gerechtigkeit ist, dass die schlechten Taten die guten nicht beseitigen. Sünden können niemals gute Taten auslöschen. Vielmehr ist es umgekehrt:
„…Die guten Taten lassen die bösen Taten vergehen.“ (11:114)
Allah wird für den Tag der Auferstehung die gerechten Waagen aufstellen (siehe 21:47). Dies gilt für jedermann – sei es der Pharao, Abū Jahl oder ein anderer Ungläubiger (kāfir). Man stellt ihm die Waage auf, die aus zwei Waagschalen und einem Zeiger besteht. Auf der rechten Waagschale werden die guten Taten gewogen, auf der linken die schlechten. Wer ein Götzendiener oder Leugner bzw. Ungläubiger (kāfir) ist, dessen gute Taten werden zu Staub. Sie nützen ihm nichts, sie haben kein Gewicht. So sagte Er:
„Und Wir werden Uns den Werken, die sie getan haben, zuwenden und sie zu verwehtem Staub machen.“ (25:23)
„Die Werke derjenigen aber, die ungläubig sind, sind wie eine Luftspiegelung in einer Ebene, die der Durstige für Wasser hält. Wenn er dann dorthin kommt, findet er, dass es nichts ist; aber er findet Allah da, Der ihm dann seine Abrechnung in vollem Maß zukommen lässt. Allah ist schnell im Abrechnen.“ (24:39)
Es ist nicht unsere Aufgabe, die Taten der Menschen zu wiegen. Dieses Recht steht einzig Allah in Seiner Herrschaft zu (rubūbīya), wir sind nur Sklaven. Mālik in „al-Muwaṭṭaʾ“ und Aḥmad in „al-Zuhd“ überliefern, dass ʿĪsā b. Maryam zu pflegen sagte:
لاَ تُكْثِرُوا الْكَلاَمَ بِغَيْرِ ذِكْرِ اللَّهِ فَتَقْسُوَ قُلُوبُكُمْ فَإِنَّ الْقَلْبَ الْقَاسِيَ بَعِيدٌ مِنَ اللَّهِ وَلَكِنْ لاَ تَعْلَمُونَ وَلاَ تَنْظُرُوا فِي ذُنُوبِ النَّاسِ كَأَنَّكُمْ أَرْبَابٌ وَانْظُرُوا فِي ذُنُوبِكُمْ كَأَنَّكُمْ عَبِيدٌ فَإِنَّمَا النَّاسُ مُبْتَلًى وَمُعَافًى فَارْحَمُوا أَهْلَ الْبَلاَءِ وَاحْمَدُوا اللَّهَ عَلَى الْعَافِيَةِ
„Sprecht nicht viel, außer ihr gedenkt Allahs, sonst erhärten eure Herzen! Das harte Herz ist Allah fern, aber ihr wisst es nicht. Achtet nicht auf die Sünden anderer, als wäret ihr Herren, sondern betrachtet die euren, als wäret ihr Sklaven. Die Menschen sind allein zweierlei: geprüfte und verschonte. Erbarmt euch der Geprüften und lobt Allah dafür, verschont worden zu sein!“[3]
Wer jemanden canceln will, weil er einen Fehler begangen hat, cancelt sich in Wirklichkeit selbst. Denn er ist nicht unfehlbar (maʿṣūm), vielmehr verdeckt er seine eigenen Fehler. Jeder begeht Fehler und Sünden. Derjenige, der keine Sünden begeht, ist der Gesandte Allahs ﷺ, weil er unfehlbar (maʿṣūm) ist. Er ist der einzige unserer Umma, der nicht sündigt. Jeder dieser Umma, sei es Abū Bakr oder ʿUmar, hat Fehler außer der Gesandte Allahs ﷺ. Niemand darf ihm widersprechen. Bei jedem anderen steht dir das Recht zu, ihm in seinen Gedanken und Ideen zu widersprechen.
[1] Hierfür verwendet man Begriffe wie „diskriminierend, frauenfeindlich, rassistisch, homophob“ usw. Oft ist die Folge dann „Deplatforming“, was meint, jemandem die öffentlichen Plattformen zu entziehen.
[2] Das Konzept der taqwā bedeutet gottesachtsam zu sein bzw. sich vor Allahs Strafe in Acht zu nehmen, indem man dazu auch gewisse Handlungen vornimmt. Die verbreitete Übersetzung mit „Gottesfurcht“ ist ungenügend.
[3] Al-Muwaṭṭaʾ, Hadithnr. 1821; Ibn Ḥanbal, Kitāb az-zuhd, Seite 50, Hadithnr. 311, Edition: Dār al-Kutub al-ʿIlmīya.