Scheich Muhammad al-Hassan al-Dadaw: Beim Selbstloskauf (khulʿ) existiert eine Meinungsverschiedenheit, ob er als Scheidung (ṭalāq) gewertet wird (oder eine Auflösung des Ehevertrages darstellt).
Moderator: Was zeichnet diesen aus?
Dadaw: Er ist eine Trennung per Entschädigung. Die Ehefrau verlangt dies und sobald sie dem Mann eine Entschädigung zahlt, liegt der Selbstloskauf (khulʿ) vor. Er verlangt die Entschädigung, indem er z.B. sagt: „Wenn du mir diese Summe zahlst, lasse ich mich von dir scheiden oder wir lösen den Ehevertrag auf.“
Moderator: Es ist also auch ein Selbstloskauf (khulʿ), wenn der Ehemann es veranlasst? Muss das nicht von Seiten der Frau ausgehen?
Dadaw: Das spielt keine Rolle. In beiden Fällen ist es ein Selbstloskauf (khulʿ). Es muss also nicht unbedingt von ihr ausgehen. Die Erlaubnis des Selbstloskaufes (khulʿ) erwähnte Allah G im Falle, dass beide Ehepartner befürchten, die Rechte im Islam nicht wahren zu können:
„…Solltet ihr daher befürchten, dass beide Allahs Grenzen nicht einhalten könnten, dann ist es für beide kein Vergehen in dem, was sie hingibt, um sich damit loszukaufen…“ (2:229)
Dass beide befürchten, die Richtlinien Allahs nicht einhalten zu können, meint, dass jeweils der Mann oder die Frau ihren Rechten und Pflichten (in der Ehe) nicht nachkommen können. Dies steht nämlich im Widerspruch zum Islam.
„Dann ist es für beide kein Vergehen in dem, was sie hingibt, um sich damit loszukaufen[1]…“ (2:229)
Dies ist ein allgemeiner Wortlaut. Eine Gruppe von Gelehrten war der Ansicht, dass der Selbstloskauf (khulʿ) nicht erlaubt ist, wenn der Mann von der Frau mehr nimmt, als er ihr gegeben hatte.[2] Denn mit dem, was er ihr gegeben hat, war ihm der Beischlaf mit ihr erlaubt. Dieser Betrag war die Brautgabe als Schenkung (siehe 4:4). Wie kann er dann mehr von ihr nehmen? Eine andere Gruppe war der Meinung, er dürfe nur die Hälfte nehmen. Grund: Wenn er nämlich sie vor dem Beischlaf geschieden hat, hatte sie Anspruch auf die Hälfte der vereinbarten Summe, wenn ein Betrag festgelegt wurde.[3] Zudem sagte die Mehrheit der Gelehrten, dass der Selbstloskauf (khulʿ) nur durch Geld möglich sei, das man verfügt (Geldvermögen). Somit ist die Rückzahlung der Brautgabe in Form von anderem Vermögen (Sachvermögen z.B. wie Schmuck) nicht möglich.[4]
Anmerkung: Die Dauer der Wartezeit (ʿidda) beim Selbstloskauf (khulʿ) ist umstritten. Die Mehrheit der Gelehrten behandelt den Selbstloskauf (khulʿ) wie eine Scheidung (ṭalāq); deshalb gelten die im Koran erwähnten drei Zeitabschnitte (siehe 2:228).[5] Eine andere Gruppe von Gelehrten sieht nur einen Menstruationszyklus als Wartezeit (ʿidda) als erforderlich an.[6] Beweis: Nachdem die Ehefrau von Ṯābit b. Qais sich mittels des Selbstloskaufes (khulʿ) von ihm trennte, indem sie ihm die Brautgabe – er gab ihr seinen Obstgarten – zurückgab, wertete der Prophet ﷺ dies als eine einfache Scheidung bzw. er trennte sie voneinander.[7] In einem Wortlaut sagte er ﷺ, sie müsse nur einen Menstruationszyklus abwarten.[8]
Im Regelfall folgt die Muslima derjenigen Ansicht, die sie gelernt hat. Sie kann aber auch der Meinungsverschiedenheit sicherheitshalber aus dem Weg gehen, indem sie drei Zeitabschnitte wartet.
Wie lange ein Zeitabschnitt dauert, ist unter den Gelehrten wiederum umstritten. Eine Gruppe[9] betrachtet einen Zeitabschnitt als einen einzelnen Menstruationszyklus. Eine andere Gruppe[10] sieht den Zeitraum zwischen der Reinheit einer Frau und ihrem nächsten Menstruationszyklus als Zeitabschnitt an.[11] Aḥmad vertrat die zuletzt genannte Ansicht, aber änderte später seine Meinung, sodass er die Menstruationszyklen als Zeitabschnitte zählte. Auch hier geht die Muslima der Meinungsverschiedenheit aus dem Weg, wenn sie sich für die zweite Meinung entscheidet.
Bleibt die Menstruation aus (Amenorrhö), dann wartet die Muslima einen bzw. drei Monate (siehe 65:4). Hatte sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Selbstloskaufes (khulʿ) ihre Menstruation,[12] zählt diese nicht als Zeitabschnitt. War sie schwanger und gebärt sie das Kind innerhalb der Wartezeit (ʿidda), dann läuft diese unmittelbar nach der Entbindung ab. Während der Wartezeit muss ihr früherer Ehemann ihr weiterhin Unterhalt zahlen und für eine Unterkunft sorgen.[13] Ist sie nicht schwanger, entfallen diese Pflichten, so wie es bei der dritten, unwiderruflichen Scheidung auch der Fall ist.
Wollen der Mann und Frau wieder zusammen sein, kann der Selbstloskauf (khulʿ) während der Wartezeit oder danach nicht einfach widerrufen werden, so wie es bei der Scheidung (ṭalāq) der Fall ist. Vielmehr bedarf es einer neuen Eheschließung (nikāḥ)
mit einem neuen Ehevertrag, Zeugen, einer Brautgabe, einem Imam und der Zustimmung des Vormundes (walī).
Einige Gründe für einen Selbstloskauf (khulʿa):
– Der Mann ist schwach in seinem Glauben oder praktiziert nicht mehr.
– Hässliches Aussehen oder schlechter Charakter des Mannes
– Die Frau fürchtet um ihre Religion bzw. sündhaft zu werden, da sie ihren Pflichten gegenüber ihrem Mann nicht nachkommt.
– Der Mann macht ihr das Leben schwer, sodass die Frau zum Entschluss kommt: „Ich kann so nicht weiterleben!“
Liegt ein Grund vor und weigert sich der Mann, einen Selbstloskauf einzugehen, kann die Frau über einen befugten Imam die Trennung verlangen.
Dieser Videobeitrag und die Ausführungen sind theoretischer Natur dienen lediglich zu Lernzwecken. Sie können nicht verwendet werden, um über einen Sachverhalt zu entscheiden. In der Praxis muss man sich an einen befugten Imam oder ein Islamisches Zentrum wenden.
[1] In einer anderen Übersetzung: „wenn sie eine Entschädigung zahlt“.
[2] Oder zumindestens verpönt (makrūh); siehe u.a. folgende Beweise und Aussagen: Sunan Ibn Mājah, Kapitel 10, Hadithnr. 2056; Sunan al-Dāraquṭnī, Hadithnr. 3679, Edition: Muʾassasat al-Risāla; ʿAbdur-Razzāq, Al-Muṣannaf, Band 5, Seite 480, Hadithnr. 12573, Seite 484, Hadithnr. 12594 ff., Seite 485, Hadithnr. 12600 f., Edition: Dār al-Taʾṣīl; al-Iṣfahānī, Maʿrifat aṣ-ṣaḥāba, Band 6, Seite 3286, Hadithnr. 7552, Edition: Dār al-Waṭan.
[3] Wurde bereits der Beischlaf vollzogen, dann ist die gesamte Brautgabe fällig. Und eine Gruppe von Gelehrten ist der Auffassung, dass die Ehepartner sich auf eine von ihnen festgelegte Entschädigung einigen können. Diese kann aufgrund des allgemeinen Wortlautes folglich niedriger sein als die Brautgabe.
[4] Die Gelehrten, die Sachvermögen als Rückzahlung akzeptieren, argumentieren mit dem allgemeinen Wortlaut des Koranverses (2:229).
[5] ʿAlī, Saʿīd b. al-Musaiyib, Sālim b. ʿAbdillāh, ʿUrwa, Sulaimān b. Yasār, ʿUmar b. ʿAbdil-ʿAzīz, al-Ḥassan, asch-Schaʿbī, al-Nakhaʿī, al-Zuhrī, Qatāda, Khilās b. ʿAmr, Abū ʿIyāḍ, Abū Ḥanīfa, Mālik, al-Laiṯ, al-Auzāʿī und asch-Schāfiʿī.
[6] ʿUṯmān b. ʿAffān, sein Sohn Abān, Ibn ʿUmar, Ibn ʿAbbās, Isḥāq, Ibn al-Munḏir und einer Überlieferung von Abū al-Qāsim zufolge bzw. nach der richtigeren Ansicht auch Aḥmad.
[7] Sahih al-Buchārī, Kapitel 61, Hadithnr. 5273 ff.; Sunan al-Nasāʾī, Kapitel 27, Hadithnr. 3463; Sunan Ibn Mājah, Kapitel 10, Hadithnr. 2057.
[8] Sunan Abī Dāwūd, Kapitel 13, Hadithnr. 2229; Jāmiʿ al-Tirmiḏī, Kapitel 13, Hadithnr. 1185; Sunan al-Nasāʾī, Kapitel 27, Hadithnr. 3497; Sunan Ibn Mājah, Kapitel 10, Hadithnr. 2058. Viele Gelehrte der ersten Meinung (drei Zeitabschnitte) stuften diejenigen Hadithe als schwach (ḍaʿīf) ein, die den Satzteil beinhalten, dass sie eine Periode zu warten hat. Denn nur ʿAmr b, Muslim überliefert diesen Zusatz von ʿIkrima und ersterer wurde als schwacher Überlieferer angesehen. Außerdem werden im Wortlaut von „Sunan Abī Dāwūd“ zwei Obstgärten erwähnt, was ein weiterer Kritikpunkt ist.
[9] ʿUmar, ʿAlī, Abū Mūsā al-Aschʿarī, Qatāda, Ibn Masʿūd und somit Abū Ḥanīfa.
[10] ʿAbdullāh b. ʿUmar, ʿĀʾischa, al-Zuhrī, Zaid b. Ṯābit, Mālik und asch-Schāfiʿī.
[11] Siehe auch das Video „Sh. Muhammad ad-Dadaw – Die Wartezeit (‘idda).
[12] Achtung: Der Selbstloskauf (khulʿ) ist auch möglich, wenn die Frau ihre Menstruation hat, da er richtigerweise als Auflösung eines Ehevertrages (faskh) zu verstehen ist und nicht als Scheidung (ṭalāq).
[13] Siehe 65:6; Sahih Muslim, Kapitel 18, Hadithnr. 1480; al-Maqdisī, Al-Muġnī, Band 11, Seite 402, Edition: Dār ʿĀlam al-Kutub, der einen Konsens erwähnt.