Scheich Muhammad al-Hassan al-Dadaw: Wenn wir nicht imstande sind, den Islam bzw. die islamische Ordnung vollständig umzusetzen, so heißt dies nicht, dass wir alles davon unterlassen bzw. aufgeben dürfen. Schließlich sagte der Prophet ﷺ:
مَا نَهَيْتُكُمْ عَنْهُ فَاجْتَنِبُوهُ، وَمَا أَمَرْتُكُمْ بِهِ فَأْتُوا مِنْهُ مَا اسْتَطَعْتُمْ
„…Wenn ich euch also etwas verbiete, dann meidet es. Und wenn ich euch etwas anordne, dann setzt davon um, so viel ihr könnt.“[1]
Wenn der Mensch sich in Umständen vorfindet, in denen er nicht alles Verwerfliche (munkar) ändern und nicht stets das Rechte gebieten kann, aber er schafft einiges davon (Verwerfliches zu verbieten und Rechtes zu gebieten), dann ist er dazu verpflichtet. so viel er imstande ist. Das ist die Gesetzmäßigkeit Allahs, die stufenweise erfolgt, und die (dazugehörigen) Verpflichtungen (taklīf) beziehen sich auf dasjenige, wozu der Muslim imstande ist.
„Allah fordert von niemandem / von keiner Seele mehr, als er / sie vermag.“ (2:286)
„Allah erlegt keiner Seele mehr auf als das, was Er ihr zukommen lassen hat.“ (65:7)
„Keiner Seele wird mehr auferlegt, als sie zu leisten vermag.“ (2:233)
All dies sind klare Koranverse in dieser Sache. Die Verpflichtungen (des Muslims) können also nur diejenigen Dinge betreffen, die man zu leisten vermag.
Nehmen wir an, eine Person möchte ein Amt bekleiden oder eine Stelle antreten, z.B. im Bereich der Gesetzgebung im Parlament oder der Staatskasse (bait al-māl), um die Finanzen zu verwalten,[2] oder jegliche ähnliche Ämter und Positionen und sie weiß, dass sie (in ihrer Position) nicht in der Lage sein wird, alles gerecht umzusetzen, jedoch ist sie fähig, den Schaden zu begrenzen, oder den Schaden zu beseitigen, so ist sie hierzu verpflichtet.
Moderator: Unser Vorbild Yūsuf …
Dadaw: (Prophet) Yūsuf arbeitete für einen nicht-muslimischen Staat, regiert von einem nicht-muslimischen Herrscher. Er erhoffte sich dadurch Gutes zu verrichten, im Glauben die Regierung (bzw. das Land) verändern zu können, was ihm auch gelungen ist. Ein Mann arbeitete für die Tataren als Steuereintreiber. Er ging zu Sh. al-Islām b. Taimīya und stellte ihm eine Frage. Die Steuern nicht ordnungsgemäß einzutreiben, stellt einen Schaden für eine Regierung dar (weil sie dadurch Geld verliert). Er erklärte ihm, dass wenn er diese Arbeit verlässt, eine andere Person seine Stelle einnehmen wird, die mehr Geld von der Bevölkerung als erlaubt und verlangt eintreiben wird.
So fragte er ihn: „Darf ich diese Arbeit aufgeben?“ Er (Ibn Taimīya) antwortete: „Nein.“ Denn der Fragende kann (höheren) Schaden von den Menschen abwenden, indem er nur dasjenige von ihnen (an Abgaben und Steuern) einfordert, zu dem sie tatsächlich verpflichtet sind zu entrichten. Eine andere Person an seiner Stelle würde (ungerechterweise) mehr einfordern.
Moderator: Oder er nimmt das Geld für sich selbst.
Dadaw: Genau. Er (Ibn Taimīya) verbot ihm also, diese Position aufzugeben.
[1] Sahih al-Buchārī, Kapitel 96, Hadithnr. 7288; Sahih Muslim, Kapitel 15, Hadithnr. 1337; 9. Nawawī-Hadith.
[2] Z.B. über die Ausgaben zu entscheiden.