Darf man den Bart rasieren? | Sh. al-Kamali & ad-Dadaw

Scheich Sa’id al-Kamali: Frage: Sündigt derjenige, der den Bart so kürzt, dass man sogar die Haut darunter sieht?

Diese Angelegenheit ist unter den Rechtsgelehrten umstritten und diese Meinungsverschiedenheit (im Fikh) geht auf eine ursprüngliche Meinungsverschiedenheit in der islamischen Rechtstheorie (uṣūl) zurück, nämlich: Muss man, wenn man eine Anweisung befolgen will, das sprachlich bedingt Mindeste oder Maximale tun? Der Prophet ﷺ befahl, den Bart wachsen zu lassen.[1] Ab wann hat man diese Anweisung befolgt? Gilt sie als befolgt, wenn du das Mindeste tust bzw. trägst, was man als Bart bezeichnen kann oder das Maximale? Wurde also die Anweisung befolgt, wenn man das Maximale oder das Minimale der Definition eines Bartes erfüllt? Dies ist eine Meinungsverschiedenheit unter den Rechtstheoretikern. Wisset, dass jede juristische Meinungsverschiedenheit in den Wissenschaftszweigen (furūʿ), die auf eine Meinungsverschiedenheit in der Rechtstheorie zurückgeht, niemals als abschließend gilt. Schließlich baut der Zweig auf die Grundlage auf, es sei denn, man kann anhand einiger Anhaltspunkte die richtigere Meinung (rājiḥ) ermitteln. Diese Anhaltspunkte können Hadithe etc. sein. (Der alleinige Wortlaut) „Lasst…wachsen“ genügt nicht, da jemand sagen könnte: „Ich lasse doch den Bart wachsen. Ich, der einen dünnen Bart trägt, erachte mich als jemand, der ihn wachsen lässt. Denn ich folge jenen Rechtstheoretikern, die sagen, dass eine Anweisung bereits befolgt wurde, wenn das (sprachlich) Mindeste umgesetzt worden ist, nicht das Maximale.“

Es gibt einige Anhaltspunkte, etwa dass der Gesandte Allahs ﷺ seinen Bart lang wachsen ließ, die dafürsprechen, dass die richtigere Meinung ist, den Bart lang wachsen zu lassen. Allerdings bleibt es, wie ich bereits erwähnte, eine Meinungsverschiedenheit, die auf eine (ursprüngliche) Meinungsverschiedenheit in der Rechtstheorie beruht. Doch Allah weiß es am besten!


Scheich Muhammad al-Hassan al-Dadaw: Das Wachsenlassen des Bartes befahl der Gesandte Allahs ﷺ und es wurde mutawātir[2] sowie authentisch überliefert, u.a. sagte er ﷺ:

…لَكِنَّ رَبِّي قَدْ أَمَرَنِي بِإِعْفَاءِ لِحْيَتِي وَقَصِّ شَارِبِي…

„…Mein Herr hingegen befahl mir, meinen Bart wachsen zu lassen und meinen Schnurrbart zu kürzen…“[3],

…أعفوا اللحى…أرخوا اللحى…أوفوا اللحى…أوفروا اللحى…

„…Lasst den Bart wachsen…“[4]

und andere Hadithe, aus denen sein Befehl ﷺ hervorgeht, dass man den Bart zu wachsen lassen habe. Über das Wachsenlassen herrscht eine Meinungsverschiedenheit in Bezug auf die islamische Beurteilung. Die Mehrheit sieht es als verpflichtend (wājib) an, da die Befehlsform darauf hinweist. Andere Gelehrte hingegen sehen es lediglich als freiwillige Handlung (Sunna[5]) an und als Beweis nannten sie den von ʿĀʾischa in „Sahih Muslim“[6] überlieferten Hadith, dass als der Prophet ﷺ

…عَشْرَةً مِنَ الْفِطْرَةِ

„Zehn Dinge sind von der natürlichen Veranlagung (fiṭra)…“ sagte, das Wachsenlassen des Bartes nannte. Und fiṭra-Handlungen stellen grundsätzlich keine Pflicht dar. Dem ist entgegenzuhalten, dass (im selben Hadith) eine fiṭra-Handlung erwähnt wurde, die sehr wohl verpflichtend ist, nämlich das Reinigen der entsprechenden Körperstellen nach dem Toilettengang mittels Wasser (istinjāʾ).

Ferner besteht eine Meinungsverschiedenheit, in welchem Ausmaß man der Anweisung zu folgen hat. Viele Gelehrte sind der Ansicht, dass das Wachsenlassen des Bartes uneingeschränkt zu verstehen sei. Er dürfe nicht rasiert oder gar gekürzt werden. Diese Meinung gilt gerade für denjenigen, der einen leichten Bartwuchs hat. Wer aber einen dichten Bart hat oder dessen Bart lang wächst, der kann Mālik zufolge denjenigen Teil kürzen, der unschön ist und verfliegt. Somit kann man jenen Teil des Bartes kürzen, der unschön ist und verfliegt.

Wenn Abū Huraira und Ibn ʿUmar eine ʿUmra oder Hadsch vollzogen, würden sie ihren Bart festhalten und den über die Faust hinausragenden Teil abschneiden.[7] Deshalb sagte eine Gruppe (von Gelehrten), man habe die Haare bis zu einer Faustlänge wachsen zu lassen und kürze den Teil darüber hinaus. Die vermittelnde Ansicht ist, dass man die Anweisung – wenn man sie als pflichtig sieht – bereits dadurch befolgt hat, weil man einen kurzen Bart trägt. Ein Bart, der bis zu einer Faust lang ist, entspricht der Sunna. Ist er länger als eine und bis zu zwei Faustlängen, so ist dies zulässig. Lässt man den Bart länger als zwei Faustlängen wachsen, ist diese Handlung verpönt (makrūh). Diese differenzierte Betrachtungsweise ist am richtigsten und bringt alle Texte in dieser Angelegenheit in Einklang.

[1] Sahih al-Buchārī, Kapitel 77, Hadithnr. 5892 f.; Sunan Muslim, Kapitel 2, Hadithnr. 259 f.; Sunan Abī Dāwūd, Kapitel 35, Hadithnr. 4199; Jāmiʿ al-Tirmiḏī, Kapitel 43, Hadithnr. 2763 f.; Sunan al-Nasāʾī, Kapitel 1, Hadithnr. 15, Kapitel 48, Hadithnr. 5045 f., 5226.

[2] Ununterbrochen so vielfach überliefert, dass die Einigung der Überlieferer auf eine Lüge, Absprache oder ein Zufall unmöglich ist.

[3] Al-Iṣbahānī, Dalāʾil an-nubūwa, Band 2, Seite 350, Edition: Dār al-Nafāʾis; al-Ṭabarī, Tārīḫ ar-rusul wa al-mulūk, Band 2, Seite 656, Edition: Dār al-Maʿārif.

[4] Sahih al-Buchārī, Kapitel 77, Hadithnr. 5892 f.; Sahih Muslim, Kapitel 2, Hadithnr. 259 f.; Jāmiʿ al-Tirmiḏī, Kapitel 43, Hadithnr. 2763; Sunan al-Nasāʾī, Kapitel 1, Hadithnr. 15, Kapitel 48, Hadithnr. 5045 f., 5226.

[5] Folge: Es ist eine Sunna, die zu- oder abnimmt. Wer seinen Bart abrasiert, hat die Sunna auf null reduziert.

[6] Sahih Muslim, Kapitel 2, Hadithnr. 261; siehe auch Sunan Abī Dāwūd, Kapitel 1, Hadithnr. 53; Jāmiʿ al-Tirmiḏī, Kapitel 43, Hadithnr. 2757; Sunan Ibn Mājah, Kapitel 1, Hadithnr. 293; Sunan al-Nasāʾī, Kapitel 48, Hadithnr. 5040.

[7] Siehe u.a. Sahih al-Buchārī, Kapitel 77, Hadithnr. 5892; Sahih Muslim, Kapitel 2, Hadithnr. 259.

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