Scheich Sa‘id al-Kamali:
Imam al-Nawawī sagte, dass die Muftis weit und breit sich einig waren, dass es erwünscht (mustaḥabb) ist, Bittgebete (zu Allah) zu sprechen.[1] Das ist ganz klar ersichtbar aus den Koranversen und Hadithen, die wir zuvor erwähnt haben. Er sagte weiter, dass eine Gruppe von Asketen der Ansicht ist, dass die Unterlassung von Bittgebeten besser ist, als sie zu sprechen. Sie bedienten sich hierbei der Reflexion und zogen einige Überlieferungen als Beweis heran. In einer Überlieferung, die bei al-Tirmiḏī verzeichnet ist, überliefert Abū Saʿīd al-Khudrī vom Propheten ﷺ (dass Allah sagte):
مَنْ شَغَلَهُ الْقُرْآنُ عَنْ ذِكْرِي وَ مَسْأَلَتِي أَعْطَيْتُهُ أَفْضَلَ مَا أُعْطِي السَّائِلِينَ (وَفَضْلُ كَلاَمِ اللَّهِ عَلَى سَائِرِ الْكَلاَمِ كَفَضْلِ اللَّهِ عَلَى خَلْقِهِ)
„Wen der Koran davon abhält, Meiner zu gedenken, Mich zu bitten und von mir zu verlangen, dem gebe Ich etwas Besseres als das, was Ich den Bittenden gebe (Das Wort Allahs gegenüber anderen Worten vorzuziehen, gleicht dem Vorzug Allahs gegenüber Seiner Schöpfung).“[2]
Eine Person hat Allah nicht (um etwas) gebeten, weil sie mit dem Koran beschäftigt war, so hat Allah ihr etwas Besseres gegeben als jene, die Ihn (um etwas) bitten. Das beweist, dass die Unterlassung von Bittgebeten besser ist, als sie zu sprechen. Sie stützen sich ebenfalls auf das, was über Ibrāhīm überliefert wird. Als der König ihn ins Feuer werfen ließ, kam zu ihm der Engel Jibrīl und fragte ihn: „Hast du ein Anliegen?“ Ibrāhīm antwortete: „Von dir benötige ich nichts.“ Er sagte: „Frag deinen Herren.“ So sagte Ibrāhīm : „Da Er meinen Zustand kennt, erübrigt sich dadurch meine Bitte.“[3]
Ich bitte Ihn nicht, weil Er bestens meinen Zustand kennt und weil Er bestens weiß, was ich benötige. Sie bedienten sich der Reflexion. Sie sagten: „Du bittest Allah, weil du etwas möchtest. Du willst eine von dir gewünschte Sache erlangen. Die Sache, um die du Allah bittest – wenn es im Wissen Allahs vorhanden ist, dann wird es für dich zustande kommen. Es gibt also in diesem Bittgebet keinen Nutzen, da es bereits im Wissen Allahs ist, dass diese Sache passieren wird. Und wenn es im Allahs Wissen ist, dass die Sache nicht zustande kommen wird, dann hat das Bittgebet doch keinen Nutzen.“ Das ist ihr erstes Argument. Weiterhin sagten sie: „Allah um etwas zu bitten, deutet darauf hin, dass der Bittende nicht zufrieden ist mit dem, was Allah für ihn vorgeschrieben hat. Denn er verlangt ja nach seinem (persönlichen) Anliegen und verlässt sich nicht auf das Vorhaben seines Herren. Wenn er nämlich damit zufrieden wäre, würde er keine Bittgebete sprechen.“
Sie sagten auch, dass Allah bestens über seinen Diener im Bilde ist. Der Diener weiß auch, dass sein Herr bestens seinen Zustand kennt. Der Herr ist nicht unwissend über den Zustand Seines Dieners, das weiß der Diener. Der Herr kennt den Zustand Seines Dieners und der Diener weiß, dass Er seinen Zustand kennt. Wenn also der Diener weiß, dass sein Herr bestens seinen Zustand kennt, dann gehört es zum Anstand, Ihn nicht zu bitten. Das sind die Beweise derjenigen, die sagen, dass die Unterlassung von Bittgebeten besser ist, als sie zu sprechen.
Jedoch ist das, was sie erwähnten, bedenklich. Die Überlieferung, die bei al-Tirmiḏī verzeichnet ist, ist sehr schwach (ḍaʿīf). Al-Ṣaġānī sagte sogar, dass sie erfunden (mauḍūʿ) ist, also kann man sie nicht als Beweis erbringen. Die Geschichte, die über Ibrāhīm überliefert wird, findet man in den Geschichtsbüchern und in den Büchern, in denen es um die Charakterentwicklung geht. Jedoch hat die Überlieferung keine Grundlage. Man findet sie nicht in den Hadith-Sammlungen, daher kann sie nicht als Beweis genannt werden. Somit bleiben nur noch die Argumente im Wege der Reflexion. In Bezug auf ihr Argument „Wenn die Sache, um die du bittest, im Wissen Allahs ist, dass sie zustande kommen wird, dann bedarf es keines Bittgebets. Wenn aber Allah weiß, dass es sie nicht geschehen wird, so hat das Bittgebet keinen Nutzen“ sagen wir, dass dies für jeden Gehorsam und Gottesdienst gilt. Wir sagen ferner: „Wenn im Wissen Allahs ist, dass du zu den Glücklichen gehören wirst, wozu sollte man dann noch gottesdienstliche Handlungen vornehmen? Und wenn es im Wissen Allahs ist, dass jemand zu den Unglücklichen gehören wird, wieso sollte er dann noch gottesdienstliche Handlungen vornehmen?“ Wie ihr seht, ist das ein sehr schwaches Argument. Man kann also hier nicht mit der göttlichen Vorbestimmung (qadar) argumentieren.
Hinsichtlich ihrer Ansicht, dass derjenige der Allah um etwas bittet, unzufrieden mit dem ist, was Allah für ihn bestimmt hat, entgegen wir, dass die Unzufriedenheit nicht der entscheidende Faktor für sein Bittgebet ist. Der Anlass für das Bittgebet ist nicht die Unzufriedenheit mit dem, was Allah vorgeschrieben hat. Vielmehr fleht er Allah an, um die Demut und den Stolz, die mit der Anbetung einhergehen, zu erkennen. Durch die Demut der Anbetung hat er erkannt, dass er außerstande ist, sein Ziel durch seine Mittel zu erreichen. Er ist nicht fähig aufgrund irgendwelcher Umständen, sein Ziel zu erreichen. Er weiß, dass sein Herr ihn hört, sein Anliegen bestens kennt und fähig ist, ihm zu helfen. Das ist der Beweggrund für sein Bittgebet. Er widersetzt sich nicht Allahs Bestimmung und ist auch damit nicht unzufrieden.
Über die Aussage, dass Allah bestens den Zustand seines Dieners kennt und es deshalb zum Anstand gehört, Ihn nicht zu bitten, sagen wir, dass das Buch unseres Herren voll mit Bittgebeten Seiner Propheten ist, Frieden und Segen sei auf ihnen allen. Sie waren die besten Geschöpfe. Wenn das Bittgebet bedeuten würde, dass man dadurch Allahs Willen widerspricht, mit Seiner Vorbestimmung unzufrieden ist und man keinen Anstand gegenüber Allah zeigt, dann wäre der der Gesandte Allahs ﷺ diejenige Person, bei der das am ehesten zutrifft. Ihr seht jedoch, dass sie (die Propheten) vermehrt Bittgebete an Allah gerichtet haben. Deshalb ist diese Ansicht eindeutig falsch. Darum sagte Imam al-Nawawī , dass die Muftis weit und breit sich einig waren, dass es erwünscht (mustaḥabb) ist, Bittgebete (zu Allah) zu sprechen.
[1] Al-Mubārakfūrī, Tuḥfat al-aḥwaḏī bi-šarḥ ǧāmiʿ at-tirmiḏī, Band 9, Seite 218, Edition: Dār al-Kutub al-ʿIlmīya.
[2] Jāmiʿ al-Tirmḏī, Kapitel 45, Hadithnr. 2926.
[3] Al-Baġawī, Maʿālim at-tanzīl, Band 5, Seite 327, Edition: Dār Ṭaiyiba; siehe bereits al-Samarqandī, Baḥr al-ʿulūm, Band 2, Seite 372, Edition: Dār al-Kutub al-ʿIlmīya.