Berechnung oder Sichtung im Ramadan? | Sh. Muhammad ad-Dadaw

Scheich Muhammad al-Hassan al-Dadaw:

Ebenfalls existiert eine Meinungsverschiedenheit hinsichtlich eines Hilfsmittels zur Bestätigung des Neumondes und zwar die Berechnung (al-ḥisāb). Wenn die Leute der Berechnung bzw. Astronomen zum Ergebnis kommen, dass der Neumond da sein wird und es möglich ist, ihn zu sichten, so herrscht darüber eine Meinungsverschiedenheit unter den Gelehrten, inwiefern man sich auf dieses Ergebnis (bei der Bestätigung des Neumondes) stützen kann. Viele sind zur Ansicht gelangt, dass man sich auf die Berechnung nicht stützen darf, denn die Berechnung sei etwas Zeitgemäßes und nicht jeder kennt oder beherrscht sie. Die Verpflichtung einer Sache (taklīf) könne nur etwas allgemein Bestimmtes sein, was die Leute kennen (und imstande sind, dieser Verpflichtung nachzukommen).

Andere Gelehrte sind zur Ansicht gelangt, dass man sich in allen Angelegenheiten auf die Berechnung stützt, sowohl in der Bestätigung (des Neumondes) als auch in der Verneinung. Wenn also die Berechnenden die „Geburt“ des Neumondes (dass er da sein wird) und die Möglichkeit, ihn zu sichten, berechnen, so wird dadurch die Sichtung bestätigt. Wenn sie zu einem negativen Ergebnis kommen (dass er nicht da sein wird) und seine Sichtung nicht möglich ist oder sein wird, so wird ihr Ergebnis ebenso berücksichtigt und ein Überlieferer wird zur Lüge gezwungen. Jedoch können zwei redliche[1] Personen nicht der Lüge bezichtigt werden.

Was ich hier in dieser Angelegenheit sehe, ist, dass man sich auf die Berechnung stützen kann, nur sofern das Rechenergebnis negativ ist (dass der Neumond nicht da sein wird). Wenn also die Rechnenden bestätigen, dass der Neumond nicht da sein wird und dass (dadurch) seine Sichtung nicht möglich ist und jemand behauptet, er habe den Neumond gesehen, so wird diese Person der Lüge bezichtigt. Denn die Regeln (und Ergebnisse) der Rechnung sind eindeutig. Die Verneinung des Neumondes genießt deshalb einen Vorrang gegenüber der Bestätigung in dieser Sache. Wenn sie aber die Existenz des Neumondes und die Möglichkeit der Sichtung bestätigen, so garantiert dies nicht, dass er dann auch tatsächlich gesichtet wurde. Die Möglichkeit der Sichtung mag zwar eine Voraussetzung sein, jedoch ist sie nicht abschließend.

Aus diesem Grund kann es passieren, dass der Neumond nicht gesichtet wird, obwohl die Möglichkeit der Sichtung besteht.[2] Wenn sie also das Bestehen eines Neumondes bestätigen, dann umfasst dies nicht, dass es möglich sein wird, ihn auch tatsächlich zu sichten.

Viele Gelehrte der heutigen Zeit stützen sich auf die Rechnung in Bezug auf das Gebet und dem Fasten. Viele Muezzins verfolgen die Sichtung oder den Stand der Sonne beim Sonnenaufgang oder -untergang bzw. den Zenit etc. nicht mehr. Vielmehr verlassen sie sich auf die berechnete (Gebets-)Zeit und tauschen die Daten aus. Diese Vorgehensweise widerspricht der malikitischen Rechtsschule, wie wir zuvor erwähnten.[3]

Der Ursprung dieser Meinungsverschiedenheit ist, dass der Prophet ﷺ sagte:

صُومُوا لِرُؤْيَتِهِ وَأَفْطِرُوا لِرُؤْيَتِهِ فَإِنْ غُمَّ عَلَيْكُمْ فَأَكْمِلُوا الْعِدَّةَ ثَلاَثِينَ

„Beginnt mit dem Fasten (des Ramadan), sobald ihr dessen (Neumond) seht, und brecht das Fasten (des Ramadan) erst, wenn ihr ihn wieder seht! Sollte die Sicht wegen Wolken nicht möglich sein, so vervollständigt (die Fastentage) auf dreißig!“[4]

Seine Aussage: „Beginnt mit dem Fasten (des Ramadan), sobald ihr ihn (den Neumond) seht.“ Die Sichtung ist ein Verbalsubstantiv und dass im Hadith das Subjekt nicht erwähnt wurde, bedeutet, dass die Aussage allgemein zu verstehen ist. Der Wortlaut umfasst folglich, dass eine einzige redliche Person oder mehr den Neumond gesichtet hat, denn er (ﷺ) sagte: „Beginnt mit dem Fasten (des Ramadan), sobald ihr ihn (den Neumond) seht.“[5]

Dies bedeutet wiederum nicht, dass alle den Neumond gesehen haben müssen. Schließlich ist dies unmöglich, denn unter den Menschen befinden sich der Blinde, Menschen, die mit anderen Dingen beschäftigt sind,[6] und andere mit Sehschwäche. Somit ist es keine Voraussetzung, dass alle Menschen den Neumond gesichtet haben müssen. Vielmehr geht es darum, die Sichtung bestätigend sicherzustellen.

Die Hanbaliten und Schafiiten sehen eine redliche[7] Person (als Sichtenden) für die Verkündung von Ramadan als ausreichend an und stützen sich hierbei (als Beweis) auf die Hadithe von Ibn ʿUmar und Ibn ʿAbbās. Im Hadith[8] von Ibn ʿUmar wird überliefert, dass er zum Propheten ﷺ ging und ihm berichtete, den Neumond gesehen zu haben. Sodann rief der Muezzin den Gebetsruf (Aḏān) für den Fastenbeginn aus. Er (Ibn ʿUmar) hatte alleine den Neumond gesichtet. Im Hadith[9] von Ibn ʿAbbās wird überliefert, dass ein Beduine vormittags zum Propheten ﷺ kam und ihm berichtete, den Neumond gestern (Nacht) gesehen zu haben. Daraufhin fragte er (ﷺ) ihn: „Bezeugst du, dass es keinen Gott gibt, außer Allah und dass ich der Gesandte Allahs bin?“ Er antwortete: „Ja.“ Anschließend rief er (ﷺ) die Leute dazu auf zu fasten.


In dieser Angelegenheit existiert ein Meinungsstreit (ob die Berechnung legitim ist):

1. Die erste Gruppe von Gelehrten war der Ansicht, dass die Berechnung sowohl in der Bestätigung als auch in der Verneinung des Neumondes herangezogen werden darf. Wenn die Leute der Berechnung also zum (positiven) Ergebnis kommen, dass der Neumond da sein wird und es möglich ist, ihn zu sichten – gleichgültig, ob er tatsächlich gesichtet wurde oder nicht –, so akzeptieren sie dieses Ergebnis (und fasten 29 Tage lang). Kommen sie dagegen zu dem Ergebnis, dass der Neumond nicht da sein und es somit nicht möglich sein wird, ihn zu sichten, so bezichtigen sie die Sichtenden – selbst wenn diese redliche Personen sind – der Lüge. Denn die astronomische Berechnung ist bestandskräftig (und ihre Ergebnisse sind eindeutig). Das war die erste Ansicht.

2. Die zweite Ansicht: Die absolute Ablehnung der Berechnung und zwar sowohl in der Bestätigung als auch in der Verneinung des Neumondes. Wenn also gesagt wird, es sei möglich, den Neumond zu sichten, so lehnen sie (die Anhänger der zweiten Ansicht) dies ab, da die Möglichkeit nicht die Bestätigung des Neumondes bedeutet. Er kann gesichtet werden oder auch nicht. Sagen die Leute der Berechnung, dass der Neumond nicht da sein wird, also nicht gesichtet werden kann und zwei redliche Personen bezeugen, dass sie den Neumond gesichtet haben, so nehmen die Anhänger der zweiten Ansicht sich den Aussagen der beiden redlichen Personen an und verweigern die Aussage der Leute der Berechnung. Das war die zweite Ansicht.

3. Die dritte Ansicht – das ist diejenige, die ich auswähle – ist eine differenzierte Betrachtungsweise: Die Berechnung wird in der Ablehnung des Neumondes herangezogen, jedoch nicht in der Bestätigung. Wenn die Leute der Berechnung also zum Ergebnis kommen, dass der Neumond nicht da sein wird und es unmöglich sei, ihn zu sichten, so verweigern wir die Aussage von zwei (redlichen) Personen, die behaupten, den Neumond gesichtet zu haben. Schließlich hat sich kein Neumond gebildet (er kann also nicht gesichtet werden). Das Ergebnis der Berechnung ist hier präzise. Wenn die Leute der Berechnung aber zu dem Ergebnis kommen, dass der Neumond da sein wird und sie sagen, es sei möglich ihn in einigen Ländern zu sichten, zwischen denen sich der Äquator befindet oder in Ländern, die der südliche Wendekreis durchläuft, etwa Südamerika, oder z.B. im Westen Afrikas oder irgendeinen anderen Ort auf der Erde. An diesem Ort werde der Neumond zu sehen sein und zwar nach Sonnenuntergang für ca. 13 Minuten, acht oder neun Minuten usw., je nach was die Leute der Berechnung dann sagen. So wird in einem solchen Fall das Ergebnis nicht akzeptiert, bis der Neumond tatsächlich gesichtet wurde. Denn die Leute der Berechnung bestätigen die Möglichkeit der Sichtung und die Möglichkeit wiederum bedeutet nicht, dass der Neumond gefunden bzw. gesichtet wurde. Es ist z.B. möglich, dass jemand krank oder gesund ist, aber bedeutet diese Möglichkeit, dass er im Ramadan sein Fasten brechen darf? Nein, vielmehr muss er wirklich krank sein. Die Möglichkeit (der Sichtung) hängt also mit der Bestätigung des Neumonds nicht zusammen. Das ist die Ansicht (die dritte), die ich auswähle.

[1] Eine redliche Person ist u.a. eine vertrauenswürdige Person, die die großen Sünden unterlässt und den kleinen Sünden meistens aus dem Weg geht.

[2] Denn er ist tatsächlich da, aber man sieht ihn nicht z.B. aufgrund von Wolken, die ihn verdecken.

[3] Siehe das Video „Sichtung des Neumondes – Überlieferung oder Zeugenaussage?“.

[4] Der Hadith ist so und in ähnlicher Form in allen sechs kanonischen Hadith-Werken zu finden, also in Sahih al-Buchārī, Sahih Muslim, Sunan Abī Dāwūd, Jāmiʿ al-Tirmiḏī, Sunan al-Nasāʾī und Sunan Ibn Mājah.

[5] Aufgrund der Pluralform der Verben.

[6] Gemeint sind Leute, die sich mit der Mondsichtung nicht beschäftigen werden (können).

[7] Siehe Fn. 1.

[8] Sunan Abī Dāwūd, Kapitel 14, Hadithnr. 2342; Bulūġ al-Marām, Kapitel 5, Hadithnr. 654.

[9] Sunan Abī Dāwūd, Kapitel 14, Hadithnr. 2340; Jāmiʿ al-Tirmiḏī, Kapitel 8, Hadithnr. 691; Sunan al-Nasāʾī, Kapitel 22, Hadithnr. 2112 f.

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